Die Druckgrafik zeigt die neugezeichneten Wahlkreise von Massachusetts.
Salamander, Gerrymander: Satirische Darstellung der Wahlbezirke von Massachusetts aus dem Jahr 1812 in der «Boston Gazette». Wikimedia Commons

«Die haben die Demokratie kaputtgemacht»

Was tun, wenn die Wählerinnen für die falsche Partei stimmen? Dann verschieben Politiker in den USA die Wahlkreise. Dieses sogenannte Gerrymandering ist eine Gefahr für die Demokratie. Doch nun gerät es unter Druck.

Von Michael Rüegg, 24.04.2018

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Was ist eigentlich mit den USA los? Die Demokratie krankt, meinen zumindest Eric und Suzi LeVine. Sie kranke an einem System, das den Willen der Wählerinnen ignoriere. Doch das könnte sich ändern. Was derzeit in den amerikanischen «Communities», den Gliedstaaten und am Obersten Gerichtshof geschieht, könnte politisch mehr verändern als jeder Tweet von Donald Trump.

Suzi LeVine war von 2014 bis 2017 während der zweiten Amtszeit der Obama-Regierung US-amerikanische Botschafterin für die Schweiz und Liechtenstein. Zusammen mit ihrem Ehemann Eric, einem Unternehmer, tourte sie durch die Schweiz wie kein US-Botschafter vor ihr. Suzi LeVine marschierte an der Zürcher Gay Pride mit, pflegte ihre zahlreichen Schweizer Facebook-Freunde und studierte mit Begeisterung das System der Berufslehren. Seit seiner Rückkehr in die USA wirbt das Paar dort für die duale Berufsbildung.

Nun sind die LeVines zurück in der Schweiz. An der Universität Zürich werden sie über die Verschiebung von Wahlkreisgrenzen sprechen.* Oder, wie sie sagen: darüber, wie eine 200-jährige Praxis der amerikanischen Demokratie heute stärker schadet als je zuvor.

Suzi und Eric LeVine, ich hatte mir vorgenommen, ein Gespräch über US-Politik zu führen, in dem Donald Trump mal nicht die Hauptrolle spielt. Doch ich schaffe es nicht, ihn auszublenden.
Suzi LeVine: Wir wollen ja über Gerrymandering sprechen. Eric und ich sind überzeugt, dass Donald Trump deswegen gewählt wurde.

Also doch nicht der falsche Einstieg.
Suzi Le Vine: Man darf hier allerdings nicht nur die Wahlen 2016 anschauen – die Ursprünge unserer heutigen Probleme reichen Jahrzehnte zurück. Das Schicksalsjahr war 2010. Damals haben die Republikaner die Mehrheit in vielen Parlamenten der Gliedstaaten übernommen. Und 2011 begannen sie damit, die Wahlbezirke neu einzuteilen. Damit haben sie unsere Demokratie kaputtgemacht.

Für Schweizer Ohren klingt es abenteuerlich, Wahlkreise neu zu zeichnen.
Eric LeVine: Im Gegensatz zur Schweiz vertritt in den USA jeder Abgeordnete des Repräsentantenhauses, der grossen Kammer, nur einen Wahlkreis und damit eine etwa gleich grosse Zahl von Wählerinnen. Alle zehn Jahre, nach jeder Volkszählung, hat ein Staat das Recht, seine Wahlkreise so einzuteilen, wie er das für richtig hält. Und wer die Wahlen gewinnt, definiert in den meisten Staaten die Wahlkreise. Wenn die Partei an der Macht dies auf unfaire Weise tut, ist das Gerrymandering. Heisst also: Die Politiker suchen sich ihre Wähler aus, nicht umgekehrt.

Darin sehen Sie das grösste Problem der amerikanischen Demokratie?
Eric LeVine: Wir haben es hier mit einer Staatskundelektion zu tun, das ist eine gewisse Herausforderung. Unsere zwei Parlamentskammern sind der Senat und das Repräsentantenhaus. Der Senat wird alle sechs Jahre gewählt, er soll Stabilität gewährleisten. Das Repräsentantenhaus hingegen alle zwei Jahre. Seine Aufgabe ist es, den Willen des Volkes abzubilden. Das tut es aber derzeit nicht. Früher waren bis zu einem Drittel der Wahlbezirke «swing districts», mal wurden dort Demokraten gewählt, mal Republikaner. Diese Leute aus den «swing districts» haben die politischen Deals geschmiedet. Heute sind nur etwa 20 Abgeordnete aus «swing districts» – von insgesamt 435!

Das heisst, die Meinungen bleiben zementiert?
Eric LeVine: Die Politik ist völlig polarisiert. Themen wie Waffenkontrolle oder Einwanderung beschäftigen die Menschen. 80 Prozent der Amerikanerinnen finden, der Kongress müsse etwas unternehmen. Aber aufgrund der starren Aufteilung bewegt sich nichts, die lassen es nicht einmal so weit kommen, dass abgestimmt wird. Und wenn nach zwei Jahren die Amtszeiten vorüber sind, wird trotzdem niemand abgewählt, weil die Karten bereits gemischt sind.

Was bedeutet Gerrymandering?

Der Begriff wurde berühmt durch eine Karikatur der Zeitung «Boston Gazette» im Jahr 1812. Der damalige Gouverneur von Massachusetts, Elbridge Gerry, gehörte der Demokratisch-Republikanischen Partei an, die sich später aufteilte in die bis heute bestehenden Demokraten und die National Republican Party, die 1832 zerfiel (sie ist keine direkte Vorgängerin der heutigen Republikaner). Gerry hatte die Wahlkreise in seinem Staat neu eingeteilt – und zwar so, dass seine Partei davon profitierte. Einer dieser Kreise hatte eine derart abenteuerliche Form, dass er einem Salamander glich. Daraus entstand der «Gerry-mander». Die Politikwissenschaft spricht von Gerrymandering, wenn bei Majorzwahlen Wahlkreise so manipuliert werden, dass sie aufgrund des Wahlverhaltens der dortigen Personen eine Partei bevorteilen. Das Resultat sind oft Wahlkreise, deren Grenzen seltsame Formen annehmen und nicht geografische Realitäten widerspiegeln.

Wie konnte es so weit kommen?
Suzi LeVine: Entscheidend war, ich habe es angetönt, das Jahr 2010. Das war ein «perfect storm». Obamas Gesundheitsreform war für die Leute noch nicht spürbar, das Land war in einer tiefen Rezession gefangen, die Arbeitslosigkeit hoch. Unter diesen Bedingungen konnten die Republikaner insgesamt 660 Sitze in den Parlamenten der Staaten dazugewinnen. Plötzlich hatte die Partei so viel Macht wie nie zuvor.
Eric LeVine: In einem Punkt muss man den Republikanern allerdings Respekt zollen. Sie haben sich jahrzehntelang unglaublich stark auf die Lokalpolitik konzentriert, Schulbehörden, Stadträte, Parlamente der Gliedstaaten. Das war die Vorbereitung für ihren Erfolg 2010.

Die Republikaner haben also in vielen Staaten die Macht übernommen. Dann haben sie davon Gebrauch gemacht?
Suzi LeVine: Sie haben einen phänomenalen Job in eigener Sache gemacht, indem sie die Karten neu zeichneten. Nach der Wahl im Jahr hatten wir ein starres Parlament. Nach vier bewegungslosen Jahren, 2016, waren die Leute darüber so frustriert, dass sie einfach jeden gewählt hätten, der einen Wechsel versprach. Das Ergebnis ist Donald Trump.

Aber neu war das alles ja nicht. Der erste Fall von Gerrymandering hat bereits 1812 Furore gemacht. Wenn das seit über 200 Jahren geschieht, wieso ist es gerade jetzt ein so grosses Problem?
Eric LeVine: Daten und Technologie. Mittlerweile sind so viele Informationen über jeden Einzelnen von uns vorhanden. Was wir konsumieren, unsere Vorlieben, Religion, Einkommen, Sexualität und wie sich all dies verändert. Mit diesen Daten lässt sich unser Wahlverhalten immer genauer voraussagen. Und daraus lassen sich noch leichter Wahlkreise zeichnen, die eine Partei bevorzugen.

Eric und Suzi LeVine, während Suzi LeVines Zeit als US-Botschafterin in Bern. zvg

Die Republikaner haben vor Jahren ihre Initiative «Redmap» gestartet. Ihr Ziel war, möglichst viel Fläche in den Staaten rot, also republikanisch, zu färben. Offenbar mit Erfolg.
Eric LeVine: Ja, leider. Und man muss sich diese neu gezeichneten Karten wirklich mal anschauen. Da wurde bis auf die Ebene einzelner Strassen kalkuliert. Nehmen Sie die Stadt Austin in Texas. Wie viele urbane Zentren wählt sie demokratisch. Um diesen Effekt zu mildern, haben umliegende Wahlkreise grosse Bissen aus der Stadt herausgefressen. Das sieht wirklich aus, als hätten sie ein Stück der städtischen Wählerschaft verschluckt. In Pennsylvania wurden möglichst viele demokratische Wähler in einen Kreis hineingepackt, das Resultat waren mehr Kreise mit knappen republikanischen Mehrheiten und dadurch mehr republikanische Abgeordnete. Aber das krasseste Beispiel ist North Carolina. Dort gibt es einen Wahlkreis, der zwei weit voneinander entfernte Städte verbindet, über eine schmale Strasse, die sich fast durch den gesamten Staat zieht. Hier Demokraten, dort Demokraten, lasst sie uns einfach zusammenhängen.

All das ist doch absurd.
Eric LeVine: Natürlich, deshalb hat zum Beispiel das oberste Gericht Pennsylvanias die Karten mit den Einteilungen der Wahlbezirke auch ausser Kraft gesetzt. Danach musste der Staat neue anfertigen lassen, von einem Professor der Universität Stanford. Sein Algorithmus hat dazu geführt, dass die Wahlkreise besser ausgeglichen sind. Die Karten sahen vorher verrückt aus. Eine trug verdientermassen den Übernamen «Goofy kicking Donald Duck» (Goofy tritt Donald Duck).
Suzi LeVine: Das war ein entscheidender Moment, als das oberste Gericht Pennsylvanias sie abgelehnt hat. Und der Oberste Gerichtshof der USA hat den Entscheid bestätigt. Wir machen also Fortschritte.

Sie und Ihre Mitstreiterinnen möchten also nichts anderes, als dass alle Amerikanerinnen von der Ostküste bis Hawaii korrekt repräsentiert werden?
Suzi LeVine: Ja, viele Organisationen wollen faire Wahlkreise. Das bedeutet mehr «swing districts» und eine Verteilung der Gewählten, die den tatsächlichen Wähleranteilen ihrer Parteien im Staat entspricht.

Das wiederum würde den Demokraten vermutlich die Mehrheit in der grossen Parlamentskammer sichern.
Suzi LeVine: Jede Amerikanerin wäre dadurch besser vertreten. Wenn ein Drittel der Sitze im Repräsentantenhaus wie früher «swing seats» wären, müssten Politikerinnen ihren Wählern wieder zuhören. Das macht die Demokratie gesünder. Es geht uns nicht um Parteien. Es geht darum, eine Politik zu schaffen, die den Amerikanern zuhört.

Neben dem «partisan gerrymandering», das den Erfolg einer Partei zum Ziel hat, ist auch von «racial gerrymandering» die Rede. Was ist damit gemeint?
Suzi LeVine: Dort geht es darum, ethnische Minderheiten in einem Wahlbezirk zusammenzufassen, sodass sie dort zur Mehrheit werden und eine Vertretung wählen können. Aber das ist wie ein «sugar rush» (Zuckerrausch). Kurzfristig ist eine Minderheit vertreten. Aber der langfristige Effekt ist der, dass eine Minderheit einen Vertreter in einem Wahlkreis erhält und dafür alle Angehörigen dieser Minderheit im Rest des Staates ohne eigenen Abgeordneten bleiben. Unter dem Strich bleiben sie unterrepräsentiert, obwohl sie in einem Wahlkreis die Mehrheit stellen. Das ist illegal, weil es Minderheiten benachteiligt. Die Frage, wie Minderheiten besser vertreten werden können, beschäftigte uns auch in einem unserer ersten Gespräche mit Eric Holder, unserem ehemaligen Justizminister ...

... der ja zusammen mit dem ehemaligen Präsidenten Barack Obama der Kopf des «National Democratic Redistricting Committee» (NDRC) ist. Was genau ist eigentlich Ihre Rolle?
Eric LeVine: Wir sind bloss Freiwillige. Wir haben davon gehört und wollten mithelfen. Die Organisation macht eine gute und wichtige Arbeit. Ein Teil davon hat mit Parteipolitik zu tun, aber im Grunde geht es um eine faire politische Vertretung aller Bürgerinnen. Viele unserer politischen Probleme wären lösbar, wenn wir aus dieser Starre ausbrechen könnten.

Sie sprechen auch in der Schweiz darüber, am Europa-Institut der Universität Zürich. Wieso hier, wieso nicht in den USA?
Suzi LeVine: Angesichts der geopolitischen Rolle der USA sollte es die anderen Länder interessieren, was sich bei uns tut. Unsere Demokratie ist der Kern des Erfolgs der USA in den letzten 242 Jahren. Während unserer Zeit in der Schweiz haben wir gemerkt, wie gut sich viele Leute mit amerikanischer Politik auskennen. Worüber wir hier sprechen, der Kampf gegen Gerrymandering, ist ein wichtiger Faktor für die Gesundheit unseres Landes. Und: Die Schweiz und die USA sind Schwesterrepubliken. Wenn es einer Schwester schlecht geht, sollte das die andere interessieren.

Was könnte sich verändern, wenn Sie Erfolg haben?
Suzi LeVine: Die Art, wie Entscheide zustande kommen. Nehmen wir die Schweiz als Beispiel. Ihre Parlamentarier schmieden Kompromisse. Sie versuchen Gesetze so auszuarbeiten, dass es nicht zu Referenden kommt. Dazu ist es nötig, alle Interessengruppen einzubeziehen. Der Druck aus der Bevölkerung wirkt auch schon bei uns, wir sehen bereits Erfolge unserer Arbeit. In Ohio hat eine Gruppe von Leuten darauf hingearbeitet, über die Wahlkreise an der Urne abzustimmen. Das republikanisch dominierte Parlament hat daraufhin von sich aus eine Volksabstimmung angesetzt. Der Druck auf die Politikerinnen funktioniert also.

2020 ist die nächste Volkszählung. 2021 werden wieder Karten gezeichnet. Welche Rolle spielt bis dahin der Oberste Gerichtshof in Ihren Plänen?
Eric LeVine: Im Moment sind zwei Fälle vor dem Obersten Gerichtshof hängig. Einer zu Wisconsin, einer zu Maryland. Im ersten betrifft es Gerrymandering zugunsten der Republikaner, im zweiten zugunsten der Demokraten. Die Richter könnten befinden, dass die Aufteilung in Wahlkreise fair sein müsse. Je nach Entscheid könnte man so gegen einzelne Staaten klagen: Eure Karten von 2011 sind nicht repräsentativ, ändert sie. Wir haben im Fall von Pennsylvania gesehen, dass man Karten gerichtlich anfechten kann.

Wenn dieses Jahr also ein neues Abgeordnetenhaus gewählt wird, gelten aber noch die bestehenden Karten der Wahlbezirke?
Suzi LeVine: Ja, ausser in Pennsylvania, das – wie gesagt – neue, faire Karten ausarbeiten liess. Respektive lassen musste.

Und könnte Pennsylvania allein die republikanische Mehrheit ins Wanken bringen?
Suzi LeVine: Das Resultat dort wird einen Einfluss haben. Pennsylvania hat 18 Abgeordnete. Wir rechnen damit, dass aufgrund der neuen fairen Wahlkreise in vier oder fünf davon neu demokratische Kandidaten gewählt werden. Aber noch mal: Was sich wirklich verändern kann, ist, dass wir künftig eine Nation haben, die nach den Bedürfnissen ihrer Menschen politisiert. Gerade bei Themen wie Waffenkontrolle und Einwanderung. Wenn der Wille der Wählerinnen wirklich abgebildet wird, kann sich etwas verändern.

Was, wenn Sie und Ihre Mitstreiterinnen keinen Erfolg haben?
Suzi LeVine: Wir werden Erfolg haben. Damit meine ich nicht, dass der Oberste Gerichtshof in unserem Sinne entscheidet. Wir müssen vielmehr alles tun, damit Leute in politische Ämter gewählt werden, die den Willen der Bevölkerung respektieren. Die Menschen in unserem Land sind wachgerüttelt und engagiert wie seit dem Vietnamkrieg nicht mehr. Es ist grossartig zu sehen, wie die Leute sich zivilgesellschaftlich einbringen. Nun muss es uns gelingen, dieses Engagement in die richtige politische Wahl zu verwandeln.

* Am Donnerstag, 26. April, werden Suzi und Eric LeVine als Gäste des Europa-Instituts an der Universität Zürich über Mittag einen Vortrag halten. Titel: «Manipulating electoral boundaries and how the 200 year old practice of gerrymandering broke our democracy».

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